Diskussion
Die Entnahme von Lungengewebe allein zu wissenschaftlichen oder versicherungstechnischen Zwecken ist nicht zulässig und ethisch nicht vertretbar. Es ist daher nicht möglich, die Asbestfaserbelastung in der menschlichen Lunge in vivo im Rahmen einer prospektiven systematischen Studie zu untersuchen.
In dieser Studie werden erstmals Daten aus intraindividuellen longitudinalen Asbestfaseranalysen vorgestellt, die mittels standardisierter Analyseverfahren im Lungengewebe von Patienten mit früherer Asbestexposition im Abstand von mehreren Jahren gewonnen wurden (Abbildung 2). Unsere Ergebnisse zeigen, dass Asbest in der menschlichen Lunge weiterhin nachweisbar ist, dass auch Chrysotil nach vielen Jahren noch identifiziert werden kann und dass es keine signifikante Abnahme der Asbestfaserkonzentration im Lungengewebe im Laufe der Zeit nach Beendigung der Exposition gibt.
Der einzigartige Vorteil der hier vorgestellten Daten besteht darin, dass wir einen gemessenen Ausgangspunkt für die Asbestfaserbelastung des menschlichen Lungengewebes haben, mit dem wir spätere Ergebnisse vergleichen können. In früheren Studien wurde die Biopersistenz von Asbest im Lungengewebe anhand von Tierversuchen oder hypothetischen Modellen definiert, bei denen die Basisexpositionskonzentrationen durch Messung der Asbestkonzentration in der Luft am Arbeitsplatz geschätzt wurden; diese Daten wurden dann mit Autopsieergebnissen in Verbindung gebracht. Andere Autoren verglichen Faserzahlen aus verschiedenen Zeiträumen. Unsere Proben wurden im selben Labor mit Hilfe der Phasenkontrastmikroskopie quantitativ analysiert, wobei dieselbe Methode angewandt wurde. Das Labor hat seit 1987 Erfahrung mit dieser Methode.
Individuelle Asbestkonzentrationen im Lungengewebe blieben über Intervalle von 4-21 Jahren zwischen den beiden Gewebeentnahmen stabil. Andere Autoren berichteten über eine Verringerung der Asbestfaserbelastung im Lungengewebe im Laufe von 25 Untersuchungsjahren, konnten dies jedoch leicht mit einer Verringerung der Exposition aufgrund des 1972 in den USA erlassenen Asbestverbots für Isolierprodukte erklären. Im Gegensatz zu anderen Autoren betrafen die in diesem Manuskript berichteten Analysen ein und dieselben Patienten. Die frühere Asbestexposition war also bei beiden Analysen identisch, lag aber jeweils deutlich früher (Abbildung 2). Somit ist die Exposition in den vorliegenden Daten kein Störfaktor.
Wenn man von einer Variation der Asbestkonzentrationen in einer menschlichen Lunge um den Faktor 7 bis 10 ausgeht, liegen die Asbestfaserkonzentrationen bei 90 % unserer Patienten definitiv im Bereich der Proben, die 4-21 Jahre zuvor analysiert wurden (Abbildung 3). Dies deckt sich sehr gut mit früheren Berichten über Latenzzeiten von 10 bis 60 Jahren für asbestbedingte Krankheiten, von denen man annimmt, dass sie sich typischerweise entwickeln, während Asbest vorhanden ist.
Bei einigen Patienten war die Faserzahl nach der Autopsie höher als nach der Operation. Dies lässt sich durch die bekannte Notwendigkeit erklären, wegen der heterogenen Verteilung von Asbestkörpern im Lungengewebe mehrere Gewebeproben einer Lunge auszuwerten. Eine solche Vielzahl von Gewebeproben, die für Faseranalysen geeignet sind, kann nur durch Autopsien gewonnen werden. Chirurgisches Gewebe ist von begrenzter Größe oder von der Seite des Tumors, wenn ein Tumor vorhanden ist. Der kontralaterale Lappen ist, wie in den Leitlinien empfohlen, aus Autopsiegewebe verfügbar; auch der Unterlappen ist verfügbar, der in der Regel höhere Faserzahlen enthält. Gemäß der deutschen AMWF-Richtlinie haben wir in Tabelle 1 den höchsten Wert als Ergebnis verwendet, in Abbildung 3 jedoch die Ergebnisse relativiert, wenn alle Werte berücksichtigt werden. Bei eingeschränkter Gewebeverfügbarkeit wurden die Asbestosen aus Operationsgewebe noch eindeutig bestätigt.
Die Lichtmikroskopie mit Phasenkontrast zeigt nur Asbestfasern mit einer Dicke von mehr als 0,2 µm. Das Ergebnis der lichtmikroskopischen Zählung ist jedoch ein gutes Maß für die Gesamtasbestfaserbelastung des untersuchten Lungengewebes und kann gut für vergleichende Analysen verwendet werden.
Im Gegensatz zu anderen Autoren haben wir die Proben nicht gepoolt, sondern einzeln analysiert. Dieser Ansatz bietet die Möglichkeit, die Asbestkonzentrationen in direktem Zusammenhang mit der Histologie zu interpretieren. Darüber hinaus können auch fokale Anhäufungen in einem Lungenlappen erkannt und richtig bewertet werden, da eine bestimmte Probe aus einem Lappen nicht durch Proben aus anderen Lappen, die niedrigere Konzentrationen enthalten, verdünnt wird. Es hat sich gezeigt, dass asbestbedingte Veränderungen der Lunge vorwiegend die Unterlappen betreffen; dies wird nur dann angemessen widergespiegelt, wenn verschiedene Proben getrennt analysiert werden.
In 16,7 % der Fälle, in denen der Kontakt mit Asbest zwischen 20 und 29 Jahren zurücklag, wurden die ersten Lungenstaubanalysen an BAL-Proben durchgeführt. Sie wiesen eine erhöhte Asbestfaserbelastung auf, die bei den 8-13 Jahre später durchgeführten Autopsien bestätigt wurde. Die BAL ist in der Tat nützlich, um eine frühere Asbestexposition festzustellen, selbst wenn diese sehr lange zurückliegt. Dies wurde in der vorliegenden Studie erneut bestätigt.
Eine qualitative Faseranalyse mittels EDX-Analyse zeigte Chrysotil als Hauptfaser in den meisten Gewebeproben (66,7 %), wobei die Beendigung der Asbestexposition bis zu 37 Jahre zurücklag. Dies deckt sich mit den Ergebnissen anderer Autoren, die in den Lungen deutscher Patienten hauptsächlich Chrysotil fanden. Im Gegensatz dazu konnten in Fällen mit Pneumokoniose im Vereinigten Königreich nur Amphibole nachgewiesen werden, während die Chrysotilkonzentrationen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe nicht erhöht waren. Dasselbe gilt für eine in Nordamerika durchgeführte Studie, bei der ebenfalls nur Amphibolasbest bei Mesotheliompatienten gefunden wurde. Andererseits wurde bei Bergleuten und Müllern in Kanada eine Zunahme asbestbedingter Krankheiten festgestellt, obwohl die Exposition nur Chrysotilfasern betraf. Die Fasern waren im Lungengewebe über mehrere Jahre hinweg nachweisbar. Eine Erklärung dafür könnten qualitative Unterschiede in der regionalen Asbestexposition sein. Möglicherweise ist die Verweildauer im Lungengewebe bei unterschiedlicher Herkunft und Form der Chrysotilfasern unterschiedlich.
Eine weitere Erklärung für die unterschiedlichen Befunde in den verschiedenen Studien könnten unterschiedliche Techniken der Gewebeaufbereitung und Faseranalyse sein. Bei der Lungenstaubanalyse kann nur Asbest nachgewiesen werden, der aus dem Gewebe extrahiert wurde und bei diesem Vorgang nicht verloren geht. Chrysotil wird durch den Einsatz von Säuren vollständig aufgelöst. Die Fasern können auch durch unkontrollierten Einsatz von Ultraschall zerstört werden oder während der mehrstufigen Zentrifugation verloren gehen. Für die elektronenmikroskopische Analyse werden große Teile des Faserkörpers zerstört, um an die Kernfaser zu gelangen. Der starke Strahl, der für die TEM benötigt wird, kann auch die Asbestfaser zerstören, was zu erheblichen Identifikationsfehlern führen kann. Bei unseren Routineuntersuchungen wird großer Wert darauf gelegt, die Verluste bei der Verarbeitung der Proben so gering wie möglich zu halten, und es wird keine Zentrifugation verwendet. Zur Analyse der Kernfasern verwenden wir das FE-SEM, das eine höhere Auflösung als das REM hat und die Fasern weniger beschädigt als das TEM. Da die TEM als Goldstandard für die Faseranalyse gilt, haben wir diese Methode auch auf die verfügbaren Proben angewandt, was die FE-SEM-Daten bestätigt.
Die elektronenmikroskopischen Analysen der Fasertypen in dieser Studie wurden in autoptischen Geweben durchgeführt. Die Gesamtasbestfaserbelastung der Lunge war über den gesamten Untersuchungszeitraum konstant geblieben. Selbst zum Zeitpunkt der ersten Gewebe-/BAL-Probeentnahme waren die Patienten nicht mehr asbestexponiert. Damit ist klar, dass es keine relevante Veränderung des Verhältnisses von Amphibol- zu Chrysotilfasern gegeben hat und die Chrysotilkonzentration über den Untersuchungszeitraum von 4-21 Jahren stabil geblieben ist. Dies erklärt auch, warum wir keine Korrelation zwischen dem Chrysotilgehalt und dem Zeitintervall seit der letzten Exposition oder der Dauer der Exposition feststellen konnten. Unsere Ergebnisse stimmen perfekt mit den von Churg und dePaoli veröffentlichten Daten überein, die feststellten, dass sich das Verhältnis von Chrysotil- zu Amphibol- (in diesem Fall Tremolit-) Konzentration im Laufe der Zeit nicht veränderte, indem sie zwei Patientensätze mit einem kurzen und einem langen Zeitintervall bis zur Beendigung der Exposition verglichen.
Da die Asbestfaserkonzentrationen bei den untersuchten Patienten stabil geblieben waren, deuten unsere Daten darauf hin, dass die bekannte und wissenschaftlich anerkannte Verringerung der Chrysotilfasern im menschlichen Lungengewebe zu einem sehr frühen Zeitpunkt stattgefunden haben muss. Zum Zeitpunkt der ersten Gewebeentnahme lag die letzte Asbestexposition 3-29 Jahre zurück (Median 9,5 Jahre). Das bedeutet, dass der Abbau von Chrysotilfasern innerhalb dieser Zeitspanne stattgefunden haben muss. Unsere Studie bestätigt erneut, was von Churg und dePaoli postuliert wurde: Beide Studien „deuten darauf hin, dass die fehlende Akkumulation von Chrysotil in der menschlichen Lunge eher auf Ereignisse zurückzuführen ist, die früh nach der Exposition auftreten, als auf langfristige Abbauprozesse“ und sich am besten durch die natürlichen Abwehrmechanismen der menschlichen Lunge erklären lässt, z. B. die mukoziliäre Clearance in den Bronchien und das Abhusten sowie möglicherweise die saure Hydrolyse durch Lysosomen. Dies steht im Einklang mit den von Churg für Chrysotil im menschlichen Lungengewebe ermittelten Halbwertszeiten von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten. Darüber hinaus scheinen Art und Geometrie der Fasern eine Rolle zu spielen. Bestimmte Chrysotilfasern, die wie Amphibolfasern die Abwehrmechanismen der Lunge erfolgreich überwunden haben und tief in die Alveolen eingedrungen sind, können nicht mehr eliminiert werden und sind daher über viele Jahre in der menschlichen Lunge nachweisbar.
Durch ihre extreme Biopersistenz können die Fasern von den Lungenmakrophagen biologisch nicht abgebaut werden. Die Makrophagen sterben ab und bilden die typischen Asbestkörperchen. Durch ihre nadelförmige Struktur neigen die Fasern dazu, sich in den Alveolen des Lungenparenchyms zu verfangen, so dass sie nicht aus dem System entfernt werden können. Die menschliche Lunge verfügt über keine Abwehrmechanismen, die die invasiven Fasern aus den Alveolen der Lunge entfernen könnten. Die Asbestfasern verbleiben daher in der Lunge, wo ihre anhaltende Präsenz eine Lungenerkrankung verursacht. Die ständige Reizung des Gewebes führt zu einer chronischen Entzündung, auf die das Gewebe mit Narbenbildung reagiert. Nicht nur die Amphibolfasern sind über viele Jahre im Lungengewebe nachweisbar, sondern auch Chrysotilfasern, wie sie für die asbestfaserbedingte Pneumokoniose typisch sind.
Die Gefährlichkeit von Chrysotilasbest ist in der Diskussion. Die Antwort auf diese Frage ist von großer Bedeutung für Mediziner, Toxikologen und die Bewertung von Arbeits- und Umweltrisiken. Unsere einzigartigen Daten haben die bekannten Eigenschaften der Asbestfasern (Asbest auf altgriechisch ἄσβεστος=unvergänglich) für einzelne menschliche Lungen in vivo über viele Jahre experimentell bestätigt. Insgesamt zeigt diese Studie sehr deutlich die hohe Biopersistenz nicht nur von Amphibol-, sondern auch von Chrysotilasbest in der menschlichen Lunge und liefert damit mechanistische Erklärungen für die Toxizität der Faser und die lange Latenzzeit asbestbedingter Krankheiten.