Einführung
In den westlichen Ländern sind etwa 15 % der Paare im fortpflanzungsfähigen Alter unfruchtbar, d. h. sie sind nach einem Jahr ungeschützten Geschlechtsverkehrs unfähig, ein Kind zu empfangen. In etwa der Hälfte der Fälle ist ein männlicher Faktor verantwortlich, allein oder in Kombination mit weiblichen Faktoren.
Männliche Unfruchtbarkeit ist eines der deutlichsten Beispiele für einen komplexen Phänotyp mit einer wesentlichen genetischen Grundlage. Mehrere Risikofaktoren und Ursachen können die männliche Fruchtbarkeit beeinträchtigen, darunter Lebensstil, Diabetes, Fettleibigkeit, hormonelle Erkrankungen, Hodentrauma, Kryptorchismus, Varikozele, Infektionen des Urogenitaltrakts, Ejakulationsstörungen und Chemo-/Radio- oder chirurgische Therapien.
Identifizierbare genetische Anomalien tragen zu 15-20 % der schwersten Formen männlicher Unfruchtbarkeit (Azoospermie) bei, während die Mehrheit (30-60 %) der unfruchtbaren Männer keine eindeutige Diagnose erhält; daher werden sie als idiopathisch bezeichnet, wobei ein starker Verdacht auf genetische Ursachen besteht. Dies ist besonders offensichtlich bei Unfruchtbarkeit oder wiederholtem Versagen der assistierten Reproduktion mit normalen Samenparametern.
Zu den bekannten genetischen Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit gehören Chromosomenanomalien (identifizierbar durch Karyotyp-Analyse), Y-Mikrodeletionen (identifizierbar durch molekulare Techniken, insbesondere PCR) sowie X-chromosomale und autosomale Genmutationen (identifizierbar durch molekulare Diagnosetechniken), die auf verschiedenen Ebenen viele physiologische Prozesse beeinflussen, die an der männlichen Fortpflanzung beteiligt sind, z. B. die hormonelle Homöostase, die Spermatogenese und die Spermienqualität. Genetische Assoziationsstudien, Genmutationsscreening, Tiermodelle und Grundlagenforschung haben in den letzten Jahren die hohe Prävalenz genetischer Ursachen für Spermatogenesestörungen und männliche Unfruchtbarkeit deutlich gemacht. Sie haben auch interessante Ergebnisse zu neuen möglichen genetischen Faktoren geliefert, die an der männlichen Fruchtbarkeit beteiligt sind und als prognostische Marker für das Befruchtungspotenzial menschlicher Spermien dienen können. Rearrangements, d. h. Kopienzahlvariationen (CNVs) in den Geschlechtschromosomen (identifizierbar durch spezifische CGH- oder SNP-Arrays), wurden mit einem erhöhten Risiko für eine Beeinträchtigung der Spermatogenese in Verbindung gebracht. Kürzlich wurden auch epigenetische Mechanismen in Betracht gezogen.
Studien zur Genetik der männlichen Unfruchtbarkeit sind von Natur aus schwierig und kompliziert, da dieser Zustand heterogen ist, mehrere Ursachen hat, auf verschiedene Weise klassifiziert werden kann (klinisch, Samenanalyse, Vaterschaft) und aus komplizierten Gen-Umwelt-Interaktionen resultiert, die schwer zu bestimmen sind.
Obwohl in der klinischen Praxis nur eine relativ geringe Anzahl von Gentests zur Verfügung steht, die derzeit bei der Diagnostik des unfruchtbaren Mannes empfohlen werden, werden neue Entwicklungen auf diesem Gebiet in naher Zukunft wahrscheinlich dazu führen, dass neue genetische Marker in die klinische Praxis eingeführt werden. Daher sollten sich Kliniker ihrer Bedeutung und ihrer mutmaßlichen Rolle für eine präzisere Diagnose von bestimmten spermatogenen Veränderungen, Spermiendefekten und prognostischen Informationen bewusst sein. Genetische Tests sollten routinemäßig in die diagnostische Abklärung unfruchtbarer Männer einbezogen werden. Es wurden verschiedene Richtlinien für den korrekten Einsatz dieser Tests vor der Aufnahme eines Programms zur assistierten Reproduktion vorgeschlagen, darunter die Auswahl der Tests auf der Grundlage der anfänglichen klinischen Bewertung, der persönlichen und familiären Anamnese, der körperlichen Untersuchung, der Samen- und Hormondaten und der Ultraschallanalyse des männlichen Fortpflanzungstrakts.
Diese Tests ermöglichen eine angemessene Unterstützung für unfruchtbare Paare, da sie die Ursache der Unfruchtbarkeit erforschen und das Risiko des Paares, seine genetischen Merkmale zu vererben, bewerten. Wenn nämlich die natürliche Auslese die Übertragung von Mutationen, die Unfruchtbarkeit verursachen, verhindert, so gilt auch, dass dieser Schutzmechanismus durch Techniken der assistierten Reproduktion überwunden werden kann. Folglich ist die Identifizierung der genetischen Faktoren der männlichen Unfruchtbarkeit wichtig für die angemessene Unterstützung unfruchtbarer Paare.
Zytogenetische Untersuchungen (Karyotyp) und die Analyse der Mikrodeletion des Y-Chromosoms werden bei der diagnostischen Abklärung von Patienten mit nichtobstruktiver Azoospermie und schwerer Oligozoospermie aufgrund von Hodenversagen empfohlen, während die Analyse des Mukoviszidose-Gens CFTR bei obstruktiver Azoospermie empfohlen wird. In ausgewählten Fällen sollten auch andere Gene untersucht werden, z. B. der Androgenrezeptor (AR), Gene, die für hypogonadotropen Hypogonadismus (HH) verantwortlich sind, Gene, die an Hodenabstieg und Kryptorchismus beteiligt sind (INSL3, RXFP2), oder Gene, die für vollständige Asthenozoospermie oder Globozoospermie verantwortlich sind.
Im Folgenden werden die genetischen Ursachen der männlichen Unfruchtbarkeit ausführlicher dargestellt, um ein besseres Verständnis der vorgeschlagenen Gentests zu ermöglichen.